S. Kadosh: Shaul Weingort and the Rescue of Jews During the Holocaust

Cover
Titel
We Think of You as an Angel. Shaul Weingort and the Rescue of Jews During the Holocaust


Autor(en)
Kadosh, Sara
Erschienen
Jerusalem 2019: Yad Vashem Publications
Anzahl Seiten
424 S.
von
Fabienne Meyer, Zeitgeschichte, Universität Fribourg

Nazi-Spione versuchen, einen Ring von jüdischen Untergrundaktivisten zu entdecken, um herauszufinden, wie diese südamerikanische Pässe an Juden in Polen ausstellen. Die Nazi-Spione werden von der Polizei verhaftet, die jüdischen Aktivisten unter Beobachtung gestellt und schliesslich verhört. Was sich im Prolog der rezensierten Publikation wie ein Kurzbeschrieb für einen Agentenfilm irgendwo in Europa liest, war 1943 Realität in der Schweiz. Eine Realität, die oft vergessen, ja verdrängt wird: Die Schweiz als Ort von ausländischen Agenten, von Untergrundaktivitäten zur Rettung europäischer Juden, von herausragenden, aber lange Zeit unbekannten Persönlichkeiten, die sich in den Dienst der Menschlichkeit in unmenschlicher Zeit stellten.
Grosse Taten verlangen nach grossen Persönlichkeiten. Rabbi Shaul Weingort (1914–1946) scheint eine solche «komplexe und ungewöhnliche Persönlichkeit» (S. 390) gewesen zu sein. Als brillanter Talmud-Gelehrter war er gleichzeitig auch mit säkulärer Kultur vertraut, war charismatisch, sprachgewandt und konnte mit jüdischen wie nicht-jüdischen, religiösen wie nicht-religiösen Menschen von der Schweiz aus ein Netzwerk an Beziehungen aufbauen, das zur Rettung mehrerer hundert jüdischer Verfolgten während des Holocaust beitrug. Als einer der ersten erkannte er den Wert von südamerikanischen Pässen als Mittel der Rettung und sandte diese, durch den paraguayischen Konsul in Bern erstellten Pässe 1942/43 an Juden in Ghettos und Städten im besetzten Europa.
1946 kam Shaul Weingort auf tragische Weise bei einem Zugunglück in Montreux ums Leben. Seine Briefwechsel mit Gefangenen in Internierungslagern und polnischen Ghettos blieben bis Mitte der 1980er-Jahre in seinem früheren Zuhause in der Schweiz verborgen, bis die Dokumente der Bar Ilan University zugestellt und damit für Forschende zugänglich gemacht wurden. Heute findet sich die Sammlung im Archiv von Yad Vashem. Sara Kadosh hat diese Briefe und Dokumente in ihrer Publikation We Think of You as an Angel: Shaul Weingort and the Rescue of Jews during the Holocaust detailbewusst und auf erzählerische Weise in eine Geschichte eingearbeitet, die über das Biografische hinausgeht. Sie bettet die persönliche Reise des jüdischen Retters in das damalige Weltgeschehen ein und reichert sie mit den Entwicklungen der Vor- und Kriegszeit an.
Zu lesen bekommen wir ein Werk, das ausgehend von einer Biografie ein Stück Weltgeschichte wiedergibt und den Menschen Shaul Weingort immer wieder mit der Verfolgungsgeschichte des Nationalsozialismus in Berührung bringt: Aufgewachsen im polnischen Bielitz migrierte Weingort 1932 nach Berlin, wo er sowohl im Hildesheimer Rabbiner-Seminar als auch an der Universität studierte. Er war Zeuge der systematischen Ausgrenzung von Juden und absolvierte im Juni 1938 als letzter jüdischer Student die mündliche Prüfung für sein Doktorat an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Im Herbst gleichen Jahres wurde er zusammen mit tausenden anderen Juden aus Deutschland ausgewiesen und gezwungen, nach Polen zurückzukehren. Zu dieser Zeit war Weingort bereits mit Miriam Botschko, einer Jüdin aus Montreux, verlobt. Dank den Briefen an seine Verlobte erhalten wir persönliche Einblicke in seine Lebenswelt. Erst im August 1939 konnte der damals 24-jährige Weingort in die Schweiz einreisen, der Ausbruch des Krieges wenige Tage später erlaubte ihm, vorerst als Flüchtling in der Schweiz zu bleiben – ohne langfristige Sicherheit über seinen Aufenthaltsstatus.
Nachdem die Versuche, Schweizer Visa für seine Familie aus Polen zu erhalten, gescheitert waren, war diese ab Herbst 1940 im Warschauer Ghetto gefangen. In den folgenden Jahren bemühte sich Shaul Weingort um die Rettung von Familienangehörigen, Freunden und Bekannten aus dem von den Nazis besetzten Europa. Aus der neutralen Schweiz korrespondierte er mit Juden in Deutschland, Polen und anderswo in Europa, aber auch mit jüdischen Geistlichen in den USA, England, China, der Türkei und Eretz Israel. Er verschickte Hilfspakete mit Lebensmitteln, Medikamenten und religiösen Gegenständen. Nach Beginn der Deportationszüge in die Vernichtungslager wurde die ausländische Staatsbürgerschaft jedoch in vielen Fällen zur einzigen Möglichkeit, der Verfolgung in Europa zu entkommen.
1942 sandte Rudolf Hügli, der paraguayische Konsul in Bern, dank Vermittlung von Shaul Weingort paraguayische Pässe an Weingorts Familienangehörige im Warschauer Ghetto. Paraguay hatte zwar bereits in den 1930er-Jahren die Grenzen für Juden geschlossen, die Pässe dienten aber dennoch dem Schutz vor der nationalsozialistischen Verfolgung. Bis zum Ende des Krieges organisierte Weingort über 90 Reisedokumente für Familienmitglieder und Freunde, aber auch für Fremde. Jedes Reisedokument deckte eine ganze Familie ab, womit Weingort dazu beitrug, hunderte von Juden vor der Deportation zu bewahren. Seine Familie aber, die nach dem Erhalt der paraguayischen Pässe im französischen Internierungslager in Vittel inhaftiert wurde, konnte er nicht retten. Unter anderem aufgrund der Intervention der Schweizer Behörden gegen Rudolf Hügli hat Paraguay die Pässe für ungültig erklärt. Die polnischen Juden in Vittel wurden über das Sammellager Drancy nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Sara Kadosh schafft es, in ihrer Publikation We Think of You as an Angel eine gut ausgewogene Mischung aus Emotions- und Weltgeschichte, aus biografischen Blickpunkten und transnationalen Erzählweisen zu kreieren. Sie zeichnet die unerbittlichen Versuche eines jungen Mannes nach, sich für die Rettung seiner jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger einzusetzen. Die Stationen im Leben von Shaul Weingort – Bielitz, Berlin, Montreux – werden in den historischen Kontext gesetzt und immer wieder erhellen Rückblicke auf die Geschichte die jeweilige Gegenwart. Das Buch ermöglicht der Leserschaft Einblicke in die Bürokratie und die Flüchtlingspolitik der Schweiz vor und während des Zweiten Weltkrieges, in die Handlungsspielräume und moralischen Verfehlungen von Diplomaten und in Netzwerke aus mutigen Retterinnen und Rettern aus der ganzen Welt. Der umfangreiche Briefwechsel zwischen Shaul Weingort und seinen Familienangehörigen im Internierungslager Vittel oder im Warschauer Ghetto und die Hintergrundrecherchen von Sara Kadosh entwerfen ein erhellendes, zuweilen unbekanntes Bild der Lagerre-alität und des Ghettolebens. Und nicht zuletzt wirft der humanitäre Einsatz von Shaul Weingort für jüdische Flüchtlingskinder oder als Seelsorger in Schweizer Flüchtlingslagern ein Licht auf die Erfahrungen von tausenden von jüdischen Flüchtlingen, die während des Krieges in die Schweiz kamen.

Zitierweise:
Meyer, Fabienne: Rezension zu: Kadosh, Sara: We Think of You as an Angel. Shaul Weingort and the Rescue of Jews During the Holocaust, Jerusalem 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 116, 2022, S. 454-456. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00127.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit